Über Jahre hinweg sollen eine Vielzahl an IT-Geräten der Strafverfolgungsbehörden und anderer Ämter mit äusserst heiklen Daten in kriminelle Hände geraten sein.
Es ist eine Anfrage an die Zürcher Regierung, wie man sie nicht oft zu lesen bekommt: Drei Kantonsräte, darunter der Zürcher Strafverteidiger Valentin Landmann (SVP) als Erstunterzeichner, wollen wissen, wer dafür verantwortlich ist, dass «zahlreiche Festplatten der Justizdirektion mit teilweise hochsensiblen Daten in falsche Hände gelangten».
Betroffen seien mehrere Zürcher Staatsanwaltschaften, die Direktion selbst, der Psychiatrisch-Psychologische Dienst (PPD) sowie weitere Ämter und Behörden innerhalb der Zürcher Justiz. Die zur Entsorgung bestimmten Computer seien einem «Beauftragten» übergeben worden, schreibt Landmann in der Anfrage. Auf den Festplatten sollen sich jedoch noch zahlreiche vom Amtsgeheimnis geschützte Unterlagen befunden haben, die ungelöscht oder «mühelos» wiederherstellbar gewesen seien.
Als Beispiele nennen die drei Kantonsräte – mitunterzeichnet haben Nina Fehr Düsel (SVP) und Yiea Wey Te (FDP) – psychiatrische Gutachten und Gefährlichkeitsgutachten über verschiedene Beschuldigte, Listen mit Handynummern von Polizeibeamten sowie Unterlagen aus der Planung des Polizei- und Justizzentrums (PJZ). «Es ist verheerend, was da alles drauf ist», sagt Landmann.
Die Daten sollen laut seiner Anfrage «offenbar grösstenteils ins Zürcher Drogen- und Sexmilieu» gelangt sein. Bis heute suche die Staatsanwaltschaft Zürich nach einem Teil der Festplatten. Erst vor kurzem habe ein wegen «Hanfhandel» Beschuldigter über 20 ungelöschte Festplatten einem in das Untersuchungsverfahren involvierten Polizeibeamten übergeben, der sie an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet habe.
Die drei Kantonsräte wollen wissen, wie dies geschehen konnte, wie viele Festplatten in falsche Hände gerieten und wiederbeschafft werden konnten und welche Konsequenzen die Justizdirektion aus dem Vorfall gezogen hat.
Behörden bestätigen Datenleck
Die Staatsanwaltschaft Zürich bestätigt auf Anfrage die Sicherheitslücke in der Justizdirektion. Sie habe in diesem Zusammenhang eine Strafuntersuchung eröffnet, die noch am Laufen sei, teilt Sprecher Erich Wenzinger mit. Im Zuge dieses Verfahrens habe die Staatsanwaltschaft Datenträger sichergestellt, auf denen sich «einige wenige Daten der Justizdirektion» befunden hätten.
Auch Benjamin Tommer, Kommunikationschef im dortigen Generalsekretariat, bestätigt den brisanten Fall. «Der Vorgang, bei dem allenfalls Daten missbraucht worden sind, hat sich mutmasslich um das Jahr 2008, also vor bald 15 Jahren, zugetragen», sagt Tommer auf Anfrage. Er fiele damit in die Amtszeit von Regierungsrat Markus Notter (SP). In der Justizdirektion – die seit 2015 von der SP-Frau Jacqueline Fehr geleitet wird – sei der Vorfall jedoch erst seit 2020 bekannt.
«Unmittelbar nach Bekanntwerden des Vorfalls haben wir die zuständigen Aufsichtsorgane informiert, die Geschäftsprüfungskommission, den Datenschutz und die Finanzkontrolle. Es hat zudem eine interne Untersuchung gegeben, die abgeschlossen ist», so Tommer. Die Ergebnisse seien nun Teil der laufenden Strafuntersuchung und deshalb nicht öffentlich.
Daten flossen offenbar jahrelang ab
Valentin Landmann widerspricht der Darstellung, wonach das Datenleck lediglich «um 2008» – also vor langer Zeit – bestanden habe. «Das ist falsch. Ich habe selbst ein Gefährdungsgutachten des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes mit internen Anweisungen einsehen können – es ist mit September 2012 datiert», sagt er. Demnach hat das Leck, durch das hochsensible Daten an unbefugte Personen gerieten, mindestens vier Jahre lang bestanden – von 2008 bis 2012. Es beträfe damit auch die Amtszeit von Notters Nachfolger Martin Graf (Grüne).
Damit konfrontiert, ergänzt die Justizdirektion: «Effektiv bestand das Zusammenarbeitsverhältnis (mit einem externen Entsorgungsbetrieb, Anm.) von 2006 bis 2012.» Im Jahr 2008 habe die Direktion eine grössere Zahl von Computern ersetzt. Erst seit 2013 würden Datenträger «nach heute allgemein anerkannten professionellen Methoden – sprich zertifiziert – entsorgt». Diesen Prozess habe die Justizdirektion «unabhängig vom Vorfall im Jahr 2008 installiert».
Vier Jahre Gefängnis für 400 Kilo Drogen
Ins Rollen gebracht hat den Fall ein Mandant von Anwalt Landmann, der alles andere als ein unbeschriebenes Blatt ist: Roland Gisler. Erst Mitte November 2022 verurteilte das Obergericht Zürich den stadtbekannten Betreiber des berühmt-berüchtigten Lokals Neugasshof wegen Drogenhandels im grossen Stil zu vier Jahren Gefängnis und einer Rückzahlung von 633’000 Franken, die er mit dem Verkauf von über 400 Kilogramm Marihuana erwirtschaftet hat, wie «20 Minuten» berichtete. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, der Prozess wird laut Landmann ans Bundesgericht weitergezogen.
Just bei diesem Prozess vor dem Zürcher Obergericht hat Gisler mehr als 20 Festplatten, welche einst Beamte in der Justizdirektion verwendeten, an die Behörden übergeben, wie Landmann und Gisler sagen. Letzterer habe die Datenträger in seinem Lokal «gefunden». «Das war der Rest», sagt Gisler im Gespräch mit dieser Zeitung.
Der Neugasshof war über Jahre ein Umschlagplatz für Marihuana – und Lagerstätte für Festplatten der Justizdirektion, ohne dass diese davon wusste.
Es begann mit einer Bürofirma
Doch wie kam der 58-Jährige in den Besitz der Festplatten der Justizdirektion?
«Mein Bruder hat für eine Firma gearbeitet, die für die Justizdirektion Computer und Drucker entsorgte», erzählt Gisler. Als die Bürofirma im Jahr 2008 ihren Betrieb eingestellt habe – was sich mit online abrufbaren Handelsregisterinformationen deckt –, sei die Justizdirektion mit der Frage auf seinen Bruder zugekommen, ob er die Entsorgung der Dienstcomputer und -drucker übernehmen könne. «Die EDV-Abteilung der Justizdirektion hat alles vorbereitet. Mein Bruder musste mit einem Helfer lediglich die Computer und Drucker abbauen und abtransportieren», sagt der Neugasshof-Betreiber. Als «Bezahlung» hätten die Geräte gedient.
Tausende Justiz-Festplatten in falschen Händen?
Gisler sagt weiter, dass auf einem grossen Teil der Festplatten die Daten nicht gelöscht gewesen seien – und sein Bruder deshalb eine enorme Menge an Informationen aus der Justizdirektion erhalten habe. Sein Bruder habe ihm gesagt, dass so über die Jahre Tausende Computer und Drucker aus der Justizdirektion in seinen Besitz gelangt seien, die er nach Afrika und in die ganze Welt verkauft habe. Davor seien die Daten der Justizdirektion gelöscht worden – ob dieses Mal unwiderruflich, ist unklar. «Ich habe die Aussage meines Bruders auch den Behörden übergeben», sagt Gisler.
Nach seiner Verurteilung erwartet ihn nun ein neues Strafverfahren – diesmal im direkten Zusammenhang mit den Festplatten der Justizdirektion: Roland Gisler soll Richter und Staatsanwälte bedroht, am Handy angerufen und sie an ihren privaten Wohnsitzen aufgesucht haben. Die dafür nötigen Telefonnummern und Adressen kamen laut dem 58-Jährigen aus den Festplatten der Justizdirektion.
Staatsanwalt spricht von «Mafiamethoden»
Ein Zürcher Staatsanwalt, so erzählt es Gisler, habe den 20-jährigen Sohn seiner Freundin wegen eines Joints an dessen Arbeitsplatz verhaften und eine Hausdurchsuchung durchführen lassen. «Ich bin heim zu ihm (dem Staatsanwalt, Anm. d. Red.) und wollte ihn zur Rede stellen. Er wollte wissen, woher ich seine gesperrte Telefonnummer habe. Ich habe gesagt, ich bin gut und finde es von jedem raus», sagt Gisler. Kurz darauf erzählt er von weiteren «Besuchen» und Anrufen bei Richtern und Staatsanwälten.
«Ist es verboten, Richter und Staatsanwälte anzurufen?», fragt Gisler etwas verärgert. «Ich habe etwas gemacht, wofür es keine Strafe gibt.» Die vier Jahre Freiheitsstrafe seien eine «Racheaktion» gewesen für die Festplatten, behauptet er. Am Obergericht hatte der zuständige Staatsanwalt die buchstäblichen Heimsuchungen von Beamten als «Mafiamethoden» bezeichnet und den ursprünglichen Strafantrag für Gisler von viereinhalb auf sechs Jahre erhöht, wie «20 Minuten» berichtete.
Wer für die Löschung der sensiblen Daten hätte sorgen sollen – ob Gislers Bruder und sein Helfer oder die IT-Abteilung der Justizdirektion –, bleibt unklar. Ebenso die Zahl der betroffenen Festplatten. «Was damals genau vor sich ging, ist Gegenstand der Strafuntersuchung, also können wir Ihnen die Frage nicht beantworten», teilt Sprecher Tommer auf Nachfrage mit.
Und wie geht es mit Gislers Bruder weiter? Dieser lebt laut seinem Facebook-Profil in Südosteuropa an der Adriaküste, wie Gisler bestätigt: «Er ist nach Montenegro ausgewandert und immer noch dort. Er soll aber bald nach Zürich kommen», so der 58-Jährige.
Für alle Genannten gilt die Unschuldsvermutung.