Ein bizarrer Vorfall aus dem Zürcher Kantonsparlament.
Das Weihnachtsgeschenk von Roland Gisler an Jacqueline Fehr kam etwas zu früh. Am Montagmorgen stattete Gisler – ein vom Obergericht verurteilter Drogenhändler, der Anfang Dezember im Zusammenhang mit dem Datenskandal der Justiz bekannt wurde – dem Zürcher Kantonsparlament einen Besuch ab. Im Gepäck hatte Gisler stapelweise Akten und einige Festplatten. In einem Video, das die Tamedia-Zeitungen veröffentlicht haben, hört man Gisler sagen: «Das sind alles Justizdaten, die sie meinem Bruder mitgegeben haben. Ich will sie doch nicht lagern für sie.»
Mit «sie» sind die Mitarbeitenden der Justizdirektion von Jacqueline Fehr gemeint. Seit einigen Wochen steht Fehr unter Dauerbeschuss. Der Vorfall am Montagmorgen ist eine weitere, bizarre Episode in einer Geschichte, die sich erzählt wie ein absurder Kriminalroman.
Sie beginnt mit einem Mann in China-Finken – nennen wir ihn Peter –, der von der kantonalen Verwaltung damit beauftragt wird, alte Drucker, Server, Laptops, PC und Datensticks zu entsorgen. Jahrelang geht Peter in den Staatsanwaltschaften, Statthalterämtern und Gefängnissen des Kantons ein und aus, fast so, als wäre er beim Kanton angestellt. Geld erhält er für seine Dienstleistung nicht. Stattdessen darf er als Entschädigung die alten Geräte neu aufsetzen und anschliessend auf eigene Faust weiterverkaufen.
Statt jedoch die Daten davor zu löschen, zeigt Peter sie seinem Bruder, Roland Gisler – dem Mann, der am Montag im Kantonsrat für Aufruhr gesorgt hat. So sollen private Wohnadressen und Mobiltelefonnummern von Staatsanwälten und Richtern, Strafakten, psychiatrische Gutachten und sogar die Baupläne des neuen Polizei- und Justizzentrums im Zürcher Drogen- und Sexmilieu gelandet sein.
Das Datenleck wurde Anfang Dezember publik, als Valentin Landmann, SVP-Kantonsrat und Gislers Anwalt, dazu eine Anfrage an den Regierungsrat gestellt hat. Seither fragt sich die Politik: Wie konnte so etwas passieren?
SVP-Kantonsräte haben Anfang Dezember eine parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) gefordert, welche die gesamten Vorgänge genau untersuchen soll. Fehr ist zwar erst seit 2015 im Amt, und das Datenleck soll sich zwischen 2006 und 2012 ereignet haben. Fehr wird aber vorgeworfen, die Öffentlichkeit und die Geschäftsprüfungskommission des Kantonsrates nicht genügend über das Ausmass des Vorfalls informiert zu haben.
Am Montag war im Kantonsparlament eine Dringliche Interpellation zum Thema traktandiert. Die Diskussion wurde aber vertagt, mit der Begründung, der Regierungsrat habe den Vorstoss noch nicht behandelt. Die Interpellanten von SVP, FDP, Mitte und GLP wollten von Fehr unter anderem wissen, ob mit 100-prozentiger Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass nach 2014 nie mehr Daten verlorengegangen seien. Antworten wird es am 9. Januar geben. Damit wird sich auch der Entscheid über eine PUK ins neue Jahr verzögern.
Mit Gislers neuster Aktion dürfte die Kritik an der Justizdirektion nicht abebben. Im Rat hat das Intermezzo für einigen Aufruhr gesorgt. Die SVP-Kantonsrätin und Juristin Nina Fehr Düsel erzählt, wie Gisler mit mehreren Koffern voller Akten aufmarschiert sei. Sie sagt: «Offensichtlich ist er nicht nur im Besitz von elektronischen Datenträgern, sondern hat auch eine ganze Reihe von physischen Akten.»
Wie viele Datenträger und Dokumente sich noch im Besitz von Gisler befinden, ist unklar. Im November 2020 führten die Strafverfolgungsbehörden eine Reihe von Hausdurchsuchungen durch. Dabei wurden zahlreiche Festplatten beschlagnahmt. Offensichtlich aber nicht alle, wie sich an diesem Montag gezeigt hat.
Gislers «Weihnachtsgeschenk», die Akten und Festplatten, hat die Zürcher Staatsanwaltschaft nun bei sich, wie sie am Montagabend mitteilte. Das Material würde in die laufenden Ermittlungen einbezogen und ausgewertet. Auch die Umstände der Aktenübergabe im Kantonsparlament werden untersucht, schreibt die Staatsanwaltschaft.