Die elektronische Überwachung ist nun auch für Vergewaltiger oder schwere Gewalttäter möglich. Die SVP kämpft mit überparteilicher Hilfe dagegen. Fachleute befürworten die Massnahme.
Anstatt ihre Strafe im Gefängnis abzusitzen, können fortan mehr Verurteilte mit einer Fussfessel in den Hausarrest. Das Bundesgericht hat im März ein Leiturteil gefällt, das die sogenannte elektronische Überwachung auch bei längeren Freiheitsstrafen erlaubt – und damit auch bei schwereren Straftaten.
Bislang war eine elektronische Überwachung nur möglich, wenn die gesamte Freiheitsstrafe (bedingt und unbedingt) maximal ein Jahr betrug. Neu ist diese Form des Justizvollzugs auch bei längeren Freiheitsstrafen möglich, solange der unbedingte Teil (der eigentlich abgesessen werden muss) nicht mehr als 12 Monate beträgt.
Das Bundesgericht ermöglicht die Fussfessel mit seinem Urteil nun also auch Straftätern, die wegen schwerer Körperverletzung oder fahrlässiger Tötung verurteilt werden. Oder wegen sexueller Handlungen mit Kindern oder Vergewaltigung.
Zahlreiche Parlamentarierinnen und Parlamentarier um SVP-Nationalrätin Nina Fehr Düsel wollen diese Ausweitung der Fussfessel rückgängig machen. Die Juristin hat einen entsprechenden Vorstoss eingereicht. Sie verlangt eine Präzisierung im Gesetz – und hat Unterschriften von Politikerinnen und Politikern bis ins linke Lager geholt.
Das Bundesgericht argumentiert in seinem Urteil: Der heutige Wortlaut im Gesetz schliesst nicht eindeutig aus, dass Fussfesseln auch bei längeren (bedingten und unbedingten) Freiheitsstrafen möglich sind.
Für Fehr Düsel steht jedoch fest: «Wenn die elektronische Überwachung nun auch bei schwereren Delikten respektive zwei- oder dreijährigen Freiheitsstrafen möglich ist, entspricht das nicht der Idee des Gesetzgebers.» Diese mildere Vollzugsform, wie sie seit 2018 im Gesetz verankert ist, sei für bis einjährige Freiheitsstrafen vorgesehen, wenn jemand gut im Umfeld integriert sei. Damit sollen Verurteilte bei Vergehen schneller wieder in den Alltag integriert werden können.
Fehlende Abschreckung …
Die Voraussetzung für die Fussfessel ist, dass keine Fluchtgefahr besteht. Die verurteilte Person muss eine dauerhafte Unterkunft haben. Auch darf keine Gefahr bestehen, dass die Person weitere Straftaten begeht. Und der Verurteilte muss einer geregelten Arbeit, Ausbildung oder Beschäftigung von mindestens 20 Stunden pro Woche nachgehen.
Nina Fehr Düsel sagt: «Die bisherige Praxis hat sich bewährt, etwa bei Verurteilten wegen häuslicher Gewalt mit einem Rayonverbot.» Also jenen, die ein bestimmtes Gebiet für eine gewisse Zeitdauer nicht betreten dürfen. «Mir geht es vor allem um den Abschreckungseffekt, der bei Freiheitsstrafen im Gefängnis weiterhin gegeben sein muss.»
Fehr Düsel sieht sich durch die breite Unterstützung bestätigt. Zu den Unterzeichnenden zählt etwa Mitte-Nationalrat Reto Nause. «Ich finde es politisch unhaltbar, dass das Bundesgericht eine Praxisänderung einführt, die zu einer Strafmilderung führt», so der Stadtberner Sicherheitsdirektor. «Es braucht schliesslich eine erhebliche Straftat, damit jemand ein Jahr ins Gefängnis muss.»
Auch SP-Nationalrätin Andrea Zryd hat den Vorstoss unterschrieben, sieht die Sache aber mittlerweile etwas anders: «Ich finde es richtig, dass man die Praxisänderung des Bundesgerichts nochmals überprüft.» Aber: «Nachdem ich mich noch vertiefter damit befasst habe, bin ich nicht mehr sicher, ob ich in einer Abstimmung dafür stimmen würde.» Zryd sagt: «Natürlich ginge es für mich nicht, dass ein Sexualstraftäter einfach mit Fussfesseln davonkommt. Aber ich vertraue den Gerichten, dass sie das richtige Strafmass anwenden.»
… oder Schritt für bessere Resozialisierung?
Befürworter der Praxisänderung argumentieren mit der Resozialisierung. So etwa Dirk Baier, Kriminologe der Universität Zürich: «Massnahmen, die die Resozialisierung unterstützen könnten, indem sie ermöglichen, dass Straftäter in ihrem sozialen Umfeld bleiben beziehungsweise eher in dieses Umfeld zurückkönnen, sind weit sinnvoller als rein repressive Massnahmen.»
Denn, so Baier: «Personen lange einzusperren und sie dann von heute auf morgen in die Freiheit zu entlassen, ist kein guter Weg, um Rückfälle zu vermeiden.» Dass der Abschreckungseffekt verblasst, glaubt der Kriminologe nicht: «Es werden damit nicht mehr Personen ermuntert, kriminell zu werden.»
Nina Fehr Düsel hingegen sagt, Inhaftierte würden ja ohnehin darauf vorbereitet, wieder in die Freiheit entlassen zu werden. «Ich glaube nicht, dass es da zusätzlich noch den Fussfessel-Arrest braucht.»
441 Fussfessel-Antritte im Jahr 2022
Gemäss Dirk Baier fehlt es letztlich an genügend wissenschaftlicher Forschung zur elektronischen Überwachung. Er findet, die einzige vernünftige Forderung wäre nun, «dass man mittels Forschung die Folgen des Bundesgerichtsentscheids empirisch untersuchen sollte, um danach gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen».
Zudem kritisiert Baier: «Nun wird unterstellt, dass naiv alle Straftäter ins Electronic Monitoring kommen. Es kommt aber nur ein kleiner Teil, bei dem tatsächlich auch die Voraussetzungen gegeben sind, in diese Vollzugsform.» 2022 waren es 441, davon die grosse Mehrheit Männer.
Werden es wegen der vom Bundesgericht veranlassten Ausweitung nun mehr?
Fussfesseln können Gefängnisse entlasten
Erste Kantone berichten bereits von ersten Auswirkungen. Das Zürcher Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung sprach kürzlich im «Landboten» von einem «spürbaren Effekt»: Man registriere seit dem Urteil mehr Gesuche für die Fussfessel und weniger für Halbgefangenschaft. Bei Letzterer muss eine verurteilte Person ihre Ruhe- und Freizeit in einem Vollzugszentrum verbringen.
Ähnliches höre man auch aus anderen Kantonen, sagt Stefan Weiss. Er ist Konkordatssekretär der Strafvollzugskonkordate der Nordwest-, Inner- und Ostschweizer Kantone. Weiss sagt: «Es scheint mir, dass das Bundesgericht aus nachvollziehbaren Gründen auf seine ursprüngliche Rechtsprechung zurückgekommen ist.»
Die Auswirkungen des Bundesgerichtsentscheids lassen sich laut Weiss noch nicht mit Zahlen messen. «Gerechnet wird allgemein mit einem Anstieg der Electronic-Monitoring-Vollzugsfälle und einem Rückgang der Halbgefangenschaft.» Da die Halbgefangenschaft in gewissen Kantonen auch in Bezirks- und Regionalgefängnissen vollzogen wird, könne das auch zu einer Entlastung führen. Viele sind nämlich ohnehin stark belegt. Und auch finanziell könnte die breitere Anwendung der Fussfessel die Kantone entlasten: Wer seine Strafe im Hausarrest absitzt, finanziert sein Leben – im Gegensatz zum Gefängnis – weitgehend selber.