Tages-Anzeiger, 09.08.2024

Medikament, Gerät, Betäubungsmittel? Sarco wirft juristische Fragen auf, welche die Einführung beeinflussen. Im Parlament will man verhindern, dass die Schweiz «zum Sterbeland» wird.


«The Last Resort» präsentiert ihre Suizidkapsel Mitte Juli in Zürich.
Foto: AFP

Mitte Juli hätte es passieren sollen: Der erste Mensch steigt lebend in die Sarco-Suizidkapsel der Organisation The Last Resort und stirbt im «Tesla der Sterbehilfe», wie ihn sein Erfinder gerne nennt. In der Schweiz, sehr wahrscheinlich im Wallis. Eine Weltpremiere.

Doch es kam anders. Der Walliser Kantonsarzt hatte den Einsatz der Sarco-Kapsel vorsorglich verboten. Zu viele offene Fragen. Wie funktioniert das Gerät? Und sind da auch Ärzte involviert? Obwohl der ehemalige australische Arzt und Kapselerfinder Philip Nitschke eine regelrechte PR-Offensive lancierte, unter anderem mit einem Medienevent in Zürich, wurden die Bedenken nur noch grösser. Die Premiere wurde verschoben.

Was dazu beigetragen haben dürfte: Eine Amerikanerin, die als Erste mit der Kapsel hätte sterben wollen, zog sich zurück. Sie soll praktisch ihr ganzes Hab und Gut verkauft haben, fühlte sich dann aber ausgenutzt und betrogen, wie die NZZ publik machte. Die Frau schied letztendlich mithilfe einer anderen Schweizer Sterbehilfe aus dem Leben. Sarco wehrte sich, die Frau habe unter kognitiven Entgleisungen gelitten, weshalb man ihr keine Sterbehilfe hätte ermöglichen dürfen.

Hinzu kommen zahlreiche Kantone, die mit einem Strafverfahren drohen. Und die Politik, die langsam skeptisch wird.

Ein Medikament, ein Gerät, ein Betäubungsmittel?

Die grosse Frage ist zunächst: Welche Behörde ist für diese Suizidmethode respektive für das Sterbemittel zuständig? Der assistierte Suizid von Sarco funktioniert mittels Stickstoff. Die sterbewillige Person steigt in die luftdichte Kapsel, lässt per Knopfdruck den Stickstoffgehalt ansteigen, wird bewusstlos und stirbt an Sauerstoffmangel. Das soll gemäss Sarco schnell und schmerzlos sein (ist medizinisch aber umstritten).


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Eigentlich ist Stickstoff frei erhältlich. Der Walliser Kantonsarzt befand aber, dass Stickstoff bei der Verwendung in der Sterbekapsel als Medikament gälte. Daher müsse er separat zugelassen werden. Von der Heilmittelbehörde Swissmedic oder einer kantonalen Behörde. Erstere hat auch Natrium-Pentobarbital als Arzneimittel zugelassen, das als gängiges Sterbehilfepräparat verwendet wird, beispielsweise von Exit. Es fällt unter das Betäubungsmittelgesetz.

Doch diese Zulassung scheint komplizierter als gedacht. Swissmedic hat Sarco geprüft und verkündete diese Woche: Die Sterbekapsel sei weder ein Arzneimittel noch ein Medizinprodukt. Die Suizidkapsel falle also nicht in die Obhut der Heilmittelbehörde. Weil, so sagt ein Sprecher auf Nachfrage: Heilmittel seien dazu da, «Leiden zu verhindern und lindern». Bei Sarco gehe es schlicht darum, ein Leben auszulöschen. Swissmedic sagt, dass es «weitere behördliche Abklärungen zur Qualifizierung und Legitimation des Produkts» brauche. Nur: von wem?


Sie erinnert äusserlich an Tiefschlafkapseln aus Science-Fiction-Filmen. Die Farbe, ein sattes Lila, symbolisiere Würde, heisst es bei der Sterbehilfeorganisation.
Foto: Ennio Leanza (Keystone)

Naheliegend wäre, dass sich das Bundesamt für Gesundheit (BAG) darum kümmert. Dieses spielt den Ball zurück. «Swissmedic ist für die Frage verantwortlich, ob Stickstoff unter das Betäubungsmittelgesetz unterstellt werden könnte», sagt ein Sprecher.

Darauf hat Swissmedic eine klare Antwort: «Stickstoff erfüllt nicht die Voraussetzungen, um unter das Betäubungsmittelgesetz gestellt werden zu können.» Es greift also weder das Heilmittel- noch das Betäubungsmittelgesetz. Mit anderen Worten: Es braucht in dem Sinne keine Zulassung, es gibt keine Aufsichtsbehörde.

Also alles rechtens?

Eine Frage der Autonomie

«Ich bin skeptisch», sagt Bernhard Rütsche. Er ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Luzern und hat sich mit Suizidhilfe vertiefter befasst. «Sarco bewegt sich meiner Meinung nach im Graubereich.» Auch wenn das Heilmittel- und Betäubungsmittelgesetz nicht anwendbar seien, gelte immer noch das Haftpflicht- und das Strafrecht.

Letzteres ist entscheidend. Denn nachdem sich das Wallis und vorher bereits Schaffhausen skeptisch gegenüber der Suizidkapsel äusserten, drohten vergangene Woche weitere Kantone mit einem Strafverfahren, sollte die Kapsel in ihrem Kanton zur Anwendung kommen. Gegenüber den Zeitungen von CH Media kündigte etwa Zürich im Fall der Fälle ein «umfassendes Strafverfahren wegen des Verdachts auf strafbare Handlungen gegen Leib und Leben (Tötungsdelikt)» an. Die Thurgauer Staatsanwaltschaft würde bei einem Einsatz ein Strafverfahren wegen Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord eröffnen.

Letzterer ist der einzige Straftatbestand, der den assistierten Suizid in der Schweiz regelt. Das Gesetz besagt, dass der assistierte Suizid legal ist, solange er ohne «selbstsüchtige Beweggründe» erfolgt. Wenn jemand aus finanziellem Interesse einem anderen Menschen beim Suizid hilft, ist das strafbar.

Die führenden Köpfe hinter Sarco: Geschäftsführer Florian Willet (l.) von The Last Resort und der australische Sterbehilfe-Aktivist Philip Nitschke im Juli in Zürich.
Foto: AFP

Eigentlich schien Sarco die wenigen Bedingungen zu erfüllen. Der assistierte Tod in der Kapsel ist gemäss Sarco kostenlos. Allerdings zeigen die Drohungen mit einem Strafverfahren aus den Kantonen, dass grosse Fragezeichen bestehen. Das dürfte auch daran liegen, dass sich die Sarco-Methode stark von den etablierten Sterbehilfe-Möglichkeiten unterscheidet.

Exit oder Dignitas arbeiten mit Ärztinnen und Ärzten zusammen. Diese müssen die Urteilsfähigkeit der suizidwilligen Person bestätigen und ein Rezept für das Sterbemittel Natrium-Pentobarbital ausstellen. Sarco hingegen erlaubt den Sterbewilligen, quasi per Knopfdruck aus dem Leben zu scheiden.

Hier ist gemäss Rechtsprofessor Rütsche der entscheidende Punkt: «Kommt es zu einem Strafverfahren, stellt sich die Frage, ob die sterbewillige Person urteilsfähig war.» Erfinder Nitschke jedoch hat die Vision, die Suizidhilfe ohne Ärztinnen und Ärzte zu ermöglichen. Wie genau Sarco die Urteilsfähigkeit dokumentieren will, ist nicht bekannt.

«Schweiz könnte zum Sterbeland werden»

Allmählich regt sich auch Widerstand im Parlament. Namentlich in der Rechtskommission des Nationalrats: «Rechtlich habe ich viele Bedenken», sagt Nina Fehr Düsel (SVP). «Die Angelegenheit muss sehr detailliert abgeklärt werden, vom Bundesamt für Gesundheit bis hin zum Bundesgericht.» Gemäss der Juristin braucht es viel mehr rechtliche Auflagen und Vorabklärungen für die Suizidkapsel. Sie sei aber auch ethisch klar skeptisch. «Wenn man dies nun rechtlich versucht durchzubringen, könnte die Schweiz zum Sterbeland werden, was es zu verhindern gilt.» Fehr Düsel geht davon aus, dass nicht alle rechtlichen Anforderungen erfüllt sind, «daher würde ich vermutlich ein Verbot in der Schweiz fordern».


Könnte demnächst ein Verbot fordern: SVP-Nationalrätin Nina Fehr Düsel.
Foto: Raphael Moser

Von einem Verbot sieht Vincent Maitre ohne vorherige Prüfung ab. Der Mitte-Nationalrat präsidiert die Rechtskommission. «Ich habe noch keine abschliessende Haltung zur Suizidkapsel, dafür sind noch zu viele Fragen offen.» Dennoch findet er, es brauche nun eine politische Reaktion, und zwar auf höchster Ebene: «Der Bundesrat sollte per Verordnung Regeln definieren, wie die Kapsel benützt werden darf.» Zwingend wäre gemäss Maitre, das Parlament einzubeziehen. «Aber auch Ethikerinnen und Mediziner sollten in die Vernehmlassung einbezogen werden. Sie müssen etwa klären: Wie schmerzfrei, zuverlässig und menschenwürdig ist die Methode wirklich?»

Auch Gesundheitspolitikerinnen treibt die Kapsel um, etwa SP-Nationalrätin Sarah Wyss. «Ich bin keine Gegnerin der Sterbehilfe, aber dass man diese Kapsel ohne Prüfung anbieten kann, finde ich heikel.» Wyss glaubt allerdings, mit einer Verordnung wäre es nicht getan. «Wir haben eine Gesetzeslücke und müssen diese schliessen.» Überlasse man den Umgang mit der Suizidkapsel nun den Staatsanwaltschaften, drohe ein «kantonaler Wildwuchs». Die Politik müsse nun Klarheit schaffen, nicht nur juristisch: «Wir müssen auch ethische und gesellschaftspolitische Aspekte einbeziehen.»

Ab nächster Woche machen sich die Kommissionen nach der Sommerpause zurück an die Arbeit. Es dürfte gemäss den angefragten Parlamentarierinnen und Parlamentariern nur eine Frage der Zeit sein, bis erste Vorstösse zur Kapsel eingereicht werden.

Schweiz bleibt Premieren-Ziel

Und was tut nun die Organisation The Last Resort? Diese bereitet offenbar weiterhin ihre Premiere vor. Die juristischen Risiken nimmt sie dabei in Kauf. Ein Sprecher schreibt: «Unser Rechtsbeistand hat immer gesagt, dass es nach dem ersten Einsatz von Sarco eine Untersuchung geben wird, unabhängig vom Kanton.» Man akzeptiere diesen Untersuchungsprozess «voll und ganz».

Denn die Organisation ist überzeugt, gesetzlich abgesichert zu sein. Sie stützt sich stets auf ein Gutachten eines Schweizer Professors, das vor Jahren zum Schluss gekommen sein soll, dass Sarco gegen kein Gesetz verstosse. Nur ist dieses Gutachten bis heute nicht öffentlich. The Last Resort möchte es nicht herausrücken, zumindest nicht bis zur ersten Anwendung von Sarco.

In welchem Kanton und in welchem Zeitraum die Premiere nun geplant wird, will die Organisation nicht preisgeben. Nur so viel: Man halte derzeit an der Schweiz fest.