tagesanzeiger, 13.01.2025

SVP-Nationalrätin Nina Fehr Düsel fordert eine Verschärfung der Regeln für bedingte Freiheits­strafen. Die Folgen wären immens. Die Kosten auch.

Nina Fehr Düsel, Nationalrätin der SVP, steht auf einem Gehweg in Zürich.
Bedingte Freiheitsstrafen seien ein Hohn für die Opfer, sagt Nina Fehr Düsel.
Foto: Sabina Bobst

 

In Kürze:

  • Fehr Düsel fordert Einschränkung bedingter Freiheitsstrafen auf maximal ein Jahr.
  • Rund 1300 Personen müssten laut Statistiken jährlich zusätzlich ins Gefängnis.
  • Strafrechtsprofessor Felix Bommer bezweifelt, dass härtere Strafen die Gesellschaft sicherer machen.
  • Fehr Düsels Forderung erhält aus Fachkreisen aber auch Zustimmung.

Was ist eine gerechte Strafe? Über diese Frage zerbricht sich die Menschheit schon seit Hunderten von Jahren den Kopf. Im Mittelalter hielten es unsere Vorfahren noch für gerecht, einem Betrüger die Zunge abzuschneiden. Die alten Römer machten aus dem Bestrafen ein Schauspiel, indem sie Übeltäter in der Arena den wilden Tieren zum Frass vorwarfen. Und in Teilen der USA entspricht es bis heute dem Gerechtigkeitsempfinden, dass Schwerkriminelle mit dem Tode bestraft werden.

In der Schweiz sind die Zeiten, in denen Strafe zugleich Vergeltung bedeutet, schon lange vorbei. Seit der Einführung eines landesweiten Strafrechts 1938 orientierten sich die Gerichte immer mehr an der Frage, was für Massnahmen am geeignetsten sind, damit jemand nicht erneut straffällig wird. Das hat zur Folge, dass selbst bei Verbrechen wie Vergewaltigung oder schwere Körperverletzung ein Täter oft nicht ins Gefängnis muss.

Nina Fehr Düsel, 44 Jahre alt, Mutter zweier Kinder, Unternehmensjuristin und seit einem Jahr Nationalrätin der SVP, will das ändern. Sie hat gemeinsam mit 49 Mitunterzeichnenden von SVP, EDU, FDP und GLP eine Motion eingereicht, die im Strafgesetzbuch ein einziges, aber entscheidendes Wort ändern will. Konkret geht es um Artikel 42 im Strafrecht, dem Paragrafen, wo die Bedingungen für bedingte Freiheitsstrafen geregelt sind.

Keinen Tag Gefängnis für Vergewaltiger: «Ich finde solche Urteile stossend»

Fehr Düsel will, dass solche bedingte Strafen nur noch bis zu einem Jahr möglich sein sollen, statt wie heute bis zu zwei Jahren. Die Folgen wären immens. Wie Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen, müssten bei einer Umsetzung von Fehr Düsels Motion jährlich rund 1300 Personen zusätzlich ins Gefängnis.

Fehr Düsel nimmt in der Wandelhalle des Bundeshauses Platz, um ihre Beweggründe zu erklären. «Mir ist wichtig zu betonen, dass es hier nicht um geringfügige Delikte handelt», sagt sie einleitend. Als Beispiel nennt sie den Fall in Chur, der kürzlich schweizweit für Aufsehen sorgte. Ein ehemaliger Richter des kantonalen Verwaltungsgerichts wurde für schuldig erklärt, in seinem Büro eine ehemalige Praktikantin vergewaltigt zu haben. Eine Freiheitsstrafe von 23 Monaten und eine Geldstrafe von 5400 Franken waren die Folge – beides bedingt. Das heisst konkret: Wenn der Richter in den kommenden Jahren nicht erneut straffällig wird, muss er die Strafe nicht verbüssen.

«Ich finde solche Urteile stossend», sagt Fehr Düsel. Nicht nur beim Churer Fall komme es ihr so vor, als dass der Täter geschont werde. «23 Monate klingt zwar nach einer harten Strafe», so Fehr Düsel. «Aber wenn sie nur bedingt ausgesprochen wird, hat das zur Folge, dass der Täter keinen einzigen Tag im Gefängnis verbringen wird.» Das sei ein Hohn für die Opfer und wirke wenig abschreckend für die Täter.

«Das wäre eine Hauruckübung», sagt ein Strafrechtsexperte

Die Zahlen geben Nina Fehr Düsel recht. Rund achtzig Prozent der bedingt ausgesprochenen Freiheitsstrafen werden nie vollzogen. Dies, weil die Täter straffrei bleiben. Was bei der SVP-Nationalrätin gegen das Gerechtigkeitsempfinden verstösst, deuten die Verfechter eines liberalen Strafrechts als Erfolg.

Felix Bommer ist Professor für Strafrecht an der Uni Zürich. Er ist skeptisch, ob eine Verschärfung des Strafrechts, wie sie Fehr Düsel und Co. vorschwebt, mehr Gerechtigkeit schaffen würde. «Das wäre eine Hauruckübung und ein massiver Eingriff ins System», warnt Bommer.

Der Strafrechtsexperte gibt zu bedenken, dass von der Regelung nicht bloss Gewalttäter betroffen wären. «Strafen in dieser Höhe gibt es auch für Vermögens- oder Verkehrsdelikte.» Wenn die Motionärinnen und Motionäre erreichen wollen, dass Tatbestände wie Vergewaltigung oder schwere Körperverletzung zwingend eine unbedingte Freiheitsstrafe zur Folge haben, ginge das auch mit einer Spezialregelung. «Das wäre rein methodisch jedenfalls zielführender», so der Strafrechtsexperte.

Sicherer würde das die Gesellschaft aber nicht machen, ist Bommer überzeugt. «In der Praxis zeigt sich, dass in den meisten Fällen der Warnschuss eines bedingten Vollzugs genügt, damit ein Täter nicht rückfällig wird.» Und bei besonders schweren Straftaten würden die Gerichte bereits heute unbedingte Freiheitsstrafen aussprechen – selbst wenn die Rückfallquote auch bei schweren Gewaltverbrechen eher gering ist, wie Statistiken zeigen. «Bei solchen Straftaten spielt die Idee der Generalprävention eine wichtige Rolle», so Bommer. Damit ist gemeint, dass gegenüber der Gesellschaft signalisiert wird, dass gewisse Taten nicht ungesühnt bleiben.

«System radikal neu denken»: Strafrechtsprofessor hält Motion für richtig

In Europa hat sich in den meisten Ländern eine ähnliche Strafrechtspraxis entwickelt wie in der Schweiz. In weiten Teilen der Welt steht der Aspekt der Vergeltung aber nach wie vor im Zentrum. Gerade in Nord-, Mittel- und Südamerika, aber auch in Teilen Asiens funktioniert das Strafrecht nach wie vor sehr repressiv. Das zeigt unter anderem die «Prison Population Rate» der University of London, wo die Zahl der Gefängnisinsassen ins Verhältnis mit der Gesamtbevölkerung gesetzt wird. Die Statistik zeigt: Während beispielsweise in den USA von 100’000 Einwohnern durchschnittlich 541 hinter Gittern sind, sind es in der Schweiz nur 77.

Martino Mona ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Uni Bern. Dass die Schweiz zu einem «Gefängnisland» wie die USA werden könnte, wenn bedingte Strafen nur noch für kleinere Delikte möglich wären, glaubt er nicht. «Dafür ist die faktische Kriminalitätsbelastung viel zu tief und der Präventionswahn im Strafrecht nicht so gross wie in den USA», sagt Mona.

Im Gegensatz zu Felix Bommer findet er, dass die Motion von Nina Fehr Düsel in die richtige Richtung geht. «Es ist nicht gerecht, wenn man für Delikte wie Vergewaltigung faktisch ohne Strafe davonkommt», sagt Mona. Er würde sogar noch weiter gehen.

«Man muss das gesamte System der bedingten Strafen radikal neu denken und umbauen.» Bedingte Strafen soll es nur noch im Bagatellbereich geben. «Nur so kann das Unrecht, das das Opfer erlitten hat, ausgeglichen werden», sagt Mona. Auch Täter müssten einen Nachteil erfahren, die sie wegen ihrer Tat verdienten.

Strafrechtsprofessor Martino Mona am 27.09.2022 in Bern. Foto: Raphael Moser / Tamedia AG
Fordert, dass bedingte Strafen nur noch im Bagatellbereich möglich sind: Strafrechtsprofessor Martino Mona.
Foto: Raphael Moser

Ethisch viel problematischer sieht Mona die Tatsache, dass in der Schweiz viele Straftäter nach der Verbüssung ihrer Strafe gefangen bleiben, etwa aufgrund einer Verwahrung. «Wenn ein Täter die angemessene Strafe abgesessen hat, hat er keine Schuld mehr und muss freigelassen werden», sagt Mona. Die Gefängnisse seien in der Schweiz auch deshalb so voll, weil die Zahl der Betroffenen im Massnahmenregime so explosionsartig zunehme.

Die Kosten wären enorm

Gefängnisaufenthalte sind teuer. Die Schweizer Strafvollzugsanstalten führen Preislisten, die zeigen, wie viel ein Häftling in einem konkreten Setting kostet:

  • Elektronische Überwachung: 105 Franken pro Tag
  • Offener Vollzug: 240 Franken pro Tag
  • Geschlossener Vollzug: 331 Franken pro Tag
  • Sicherheitsvollzug: 575 Franken pro Tag
  • Forensisch-Psychiatrische Abteilung: 829 Franken pro Tag

Wenn innerhalb eines Jahres 1300 Menschen mehr hinter Gitter müssten, wie Fehr Düsels Motion dies implizit fordert, dann würde dies einiges an Geld kosten. Schweizweit wäre es wohl mindestens ein hoher zweistelliger Millionenbetrag. Diese Kosten würden bei den Kantonen anfallen, die für den Justizvollzug zuständig sind.

«Gefängnisstrafen ziehen immer höhere – oft öffentliche – Folgekosten nach sich als bedingte Strafen oder alternative Strafformen wie Electronic Monitoring», sagt Oliver Baumann, Sprecher der Zürcher Justizdirektion. Welche Kosten eine Anpassung von Artikel 42 im Strafgesetzbuch konkret für den Kanton Zürich verursachen würden, könne er aber nicht sagen. Auch nicht, wie viele neue Gefängnisplätze dann nötig wären. «Es liegt allerdings auf der Hand, dass mehr Vollzugsfälle die heute schon angespannte Belegungssituation in unseren Institutionen weiter verschärfen würden», so Baumann.

Nina Fehr Düsel ist es bewusst, dass ihre Forderung Mehrkosten verursachen würde. Das sei aber kein Grund, die heutige Situation einfach so hinzunehmen. «Wer bei der Sicherheit der Bevölkerung spart, spart am falschen Ort», sagt Fehr Düsel. Ausserdem gebe es auch weniger kostspielige Vollzugsformen wie etwa die Halbgefangenschaft. Hier können Straftäter tagsüber einer Arbeit nachgehen, nachts müssen sie ins Gefängnis.

Fehr Düsel hofft, dass der Bundesrat in seiner Antwort auf die Motion erste Anhaltspunkte liefern wird, was eine Umsetzung kosten würde.