Tages-Anzeiger, 31. August 2020

Aus der Klinik Rheinau ist Anfang Juli ein Sexualstraftäter entwischt – nun wird seine Flucht zum Politikum.

Anfang Juli hat ein Mann das Zürcher Weinland aufgeschreckt. Der 33-Jährige ist aus der psychiatrischen Klinik in Rheinau ausgebüxt, als er unbeaufsichtigt von einem Trakt in den nächsten gehen durfte. Internationale Fahnder konnten ihn erst Tage später in Mailand fassen.

Die Flucht des Mannes ist am Montagmorgen im Kantonsrat zum Thema geworden. Hauptsächlich, weil er wegen einer Lockerung der Vollzugsmassnahmen davonlaufen konnte und die Polizei ihn als «gefährlich» beschrieb.

80 Sträflinge mit Lockerungen

SVP-Kantonsrätin Nina Fehr Düsel aus Küsnacht wollte von der Regierung wissen, wie vielen gemeingefährlichen und verwahrten Sträflingen im Kanton Vollzugslockerungen gewährt werden. Laut Justizdirektorin Jacqueline Fehr (SP) haben die Behörden von 200 laufenden Fällen 80 eine Art von Vollzugslockerung zugesprochen – Stand Juni 2020. Diese gehörten laut Gesetz zur Resozialisierung, sagt die Regierungsrätin.

Im Kantonsrat hat sich eine längere Debatte entfacht, weil der entflohene Sträfling ein abgewiesener Asylsuchender ist. Andrea Gisler (GLP) aus Gossau fragte, inwiefern es überhaupt sinnvoll sei, abgewiesene Asylsuchende zu therapieren und ihnen in diesem Rahmen gelockerte Massnahmen zu gewähren – stattdessen könne man sie ins Gefängnis stecken. Ähnlich argumentierte auch SVP-Kantonsrat Hans-Peter Amrein aus Küsnacht, der fand: «Gewisse Leute sollte man wegsperren.»

Angie Romero, FDP-Kantonsrätin aus Zürich, wies darauf hin, dass abgewiesenen Asylsuchenden weniger Vollzugslockerungen gewährt werden sollten, weil erhöhte Fluchtgefahr bestehe. Vielmehr sollte vor deren Haftantritt bereits die Ausschaffung geplant werden. Es dürfe nicht sein, dass diese erst nach der Verbüssung der Strafe in die Wege geleitet werde.

Versucht, Frauen zu vergewaltigen

Der Mann verbrachte die letzten Jahre in der geschlossenen Abteilung der psychiatrischen Klinik Rheinau, nicht in einem Gefängnis. Dort verbüsst er eine vierjährige Haftstrafe in Form einer stationären Therapie. Laut NZZ hatte er versucht, Frauen zu vergewaltigen – er lauerte ihnen im Wald auf und stellte ihnen nach.

2018 verurteilten ihn die Richter unter anderem wegen dieses Delikts, aber auch wegen Brandstiftung, wie die «SonntagsZeitung» schrieb. Da bei ihm eine Schizophrenie diagnostiziert worden war und er die versuchte Vergewaltigung in einer Psychose begangen haben soll, konnte er statt ins Gefängnis in die Psychiatrie gehen.

Die Flucht gelang ihm dort nur, weil er unbeaufsichtigt von einem Gebäude zum anderen gehen durfte. Dieses Privileg hat ihm die Klinik erteilt, weil er als nicht mehr rückfallgefährdet galt.

Tat während Hafturlaub

Die Flucht des Mannes erinnert SVP-Kantonsrätin Nina Fehr Düsel an einen Fall von 2006. Damals durfte ein Sexualstraftäter in Hafturlaub. Der Mann nutzte die Zeit ausserhalb des Gefängnisses offenbar, um mehrfach Callgirls zu nötigen, wie «20 Minuten» damals berichtete.

Die Strafvollzugsbehörden hätten im Nachgang ihre Lehren gezogen, sagt Fehr Düsel. Doch nun habe wieder ein Sexualstraftäter entwischen können – und die Polizei habe die Bevölkerung über die Fahndung erst nach eineinhalb Tagen informiert.

Kritik an später Kommunikation
Die SP sieht sich grundsätzlich mit Vollzugserleichterungen im Sinne der Resozialisierung einverstanden. Im Fall des Sträflings aus Rheinau kritisierte SP-Fraktionschef Markus Späth aus Feuerthalen hauptsächlich die späte Kommunikation. Der Gemeindepräsident aus Rheinau habe aus den Medien vom entlaufenen Mann erfahren müssen, was nicht angehe, sagte er. Justizdirektorin Jacqueline Fehr pflichtete ihrem Parteikollegen bei.